Was passiert im Alphabetisierungskurs?

Viele Analphabeten erreichen im Integrationskurs nicht das gewünschte B1-Niveau. Diese Nachricht wurde von zahlreichen Medien aufgegriffen (zum Pressespiegel).

Doch was passiert eigentlich im Alphabetisierungskurs? Auch unter Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache gilt der Alphabetisierungskurs als Knochenjob, die Klassen als besonders heterogen. Trotzdem gibt es Lehrkräfte, die diese Aufgabe mit viel Geduld und Herzblut angehen. Ihre Perspektive soll hier im Mittelpunkt stehen.

 

Redaktioneller Hinweis:

Dieser Artikel gibt den Stand vom Januar 2018 wieder. Einige Aspekte sind mittlerweile anders geregelt. Der Artikel wird in Kürze überarbeitet.

(hb)

"Ihr Ziel ist die Kommunikationsfähigkeit - zu Recht"

Hedwig, Dozentin im Alphabetisierungskurs, über die Lernvoraussetzungen der Teilnehmenden

 

Erstschriftlerner haben eine völlig andere Lernweise als Menschen, die eine Schulbildung genossen haben. Ihnen fehlt auch eine Wahrnehmung für die Struktur der eigenen Sprache. Lernen funktioniert intuitiv, und fast nur, wenn es mit eigener Erfahrung verknüpft ist. Für "unnütze" Sachen wie z.B. Artikel, Verb- und Adjektivendungen, ist kein Platz im Hirn. Im Grunde völlig zu Recht konzentrieren sich die Teilnehmenden darauf, ihren Wortschatz zu erweitern, denn nur so können sie sich mitteilen und verstehen, was ihr Gegenüber sagt. Ihr Ziel ist die Kommunikation, unser Ziel und das der Bücher ist die sprachliche Korrektheit. Wir Dozenten verwenden leider viel Zeit darauf, korrekte Sätze einzufordern, anstatt die Kommunikationsfähigkeit zu erweitern. Was ist denn wirklich unbedingt nötig für eine funktionierende Kommunikation auf konkreter Ebene? Keine perfekte Grammatik, sondern ein passiver und ein aktiver Wortschatz und eine akzeptable Aussprache.

 

Ganz allgemein "sehen" Erstschriftlerner Buchstaben nicht als etwas, was mit einer Bedeutung zu tun hat. Im Unterricht muss man viel Zeit mit Leseübungen verbringen, denn zu Hause funktioniert das nicht besonders gut. Im Gegensatz zu den meisten Kindern nehmen sie auch Schrift und Zahlen im öffentlichen Raum fast gar nicht wahr. Die Neugier aufs Lesen scheint im Gehirn mit 5 oder 6 Jahren am stärksten ausgeprägt zu sein. Was Hänschen nicht lernt, findet Hans uninteressant.

 

Meiner Ansicht nach muss man im Erstschrift-Alphakurs mit sehr vielen Bildern zu Wörtern oder Handlungsabläufen arbeiten, und man bräuchte Personen, die handeln und sprechen. Für die Ausstattung heißt das: PC und Beamer, um Videos zum Einüben von kurzen Sätzen einzusetzen; an den Wänden viele Wimmelbilder in Großaufnahme; außerdem Platz genug, damit sich die Teilnehmer im Raum auch bewegen können. All das ist leider ein frommer Wunsch!

 

Man muss aber unterscheiden zwischen Teilnehmern, die keinerlei Schrift kennen (Erstschriftlernern) und solchen, die ihre Muttersprache schreiben können und nur die lateinische Schrift lernen müssen. Dazwischen liegen Welten. Wer z.B. Arabisch oder auch Thailändisch lesen und schreiben kann, muss „nur noch“ umlernen. Wer dagegen keinerlei Schrift kennt, hat es ungefähr so schwer wie jemand, der von einem Planeten ohne Musik kommt und plötzlich Geige lernen soll.

"Viele Dinge gelernt - nur eben nicht B1"

Katarina, Dozentin im Alphabetisierungskurs, über Prüfungsdruck und falsche Zielsetzungen

 

Wir schaffen in unserem Alphabetisierungskurs nur das A2-Niveau. Wir Dozentinnen haben uns irgendwann bewusst dafür entschieden. So konnten wir auch die Schwachen noch irgendwie in den Kurs einbinden. Denn diejenigen Teilnehmer, die keine oder nur geringe Schulerfahrung haben, die bleiben leider auf der Strecke.

 

Als Erfolg sehen wir, dass unsere Kursteilnehmer jetzt mit dem Buch umgehen können und bereits drei Probetests gemeistert haben. Sie haben ja tatsächlich viele Dinge gelernt – nur eben nicht B1. Die Gruppe ist emotional sehr gut zusammengewachsen. Hätten wir die Klasse dem Stress ausgesetzt, unbedingt B1 erreichen zu müssen, hätten wir diese Erfolge und die gute Atmosphäre aufs Spiel gesetzt.

 

Insgesamt hätte ich mir für Alphakurse eine ganz andere Konzeption gewünscht. Die Inhalte, die vermittelt werden, und das Lernziel B1 erscheinen mir vollkommen fehl am Platz.

"Alphabetisierung nach dem Prinzip <Versuch und Irrtum>?

Das ist doch hanebüchen!"

Corinna weigert sich, ohne ausreichende Schulung im Alphabetisierungskurs zu unterrichten

 

Bis 2015 oder 2016 musste eine Integrationkurslehrkraft, die in Alpha-Kursen unterrichten wollte, ein Zusatzqualifikation absolvieren. Das ist auch sinnvoll, denn die Alphabetisierung ist ein hochkomplexer und anspruchsvoller Prozess, den man nicht mal so aus dem Ärmel schüttelt.

 Um die Kurskapazitäten zu erhöhen, lässt das BAMF seit Sommer 2016 auch Lehrkräfte ohne Zusatzqualizierung im Alphabetisierungskurs unterrichten. Ich hatte mich trotzdem auf eine Warteliste setzen lassen, um das Seminar zu belegen. Leider ist die Nachfrage wesentlich höher als das Angebot. Weil ich noch Rückfragen zur Zustzqualifizierung hatte, rief ich zwei Mal beim BAMF an. Beide Male wurde ich zudem darauf angesprochen, dass ich doch die Qualifizierung für den Alphabetisierungskurs doch gar nicht mehr machen "müsse", um in dem Kurs zu unterrichten... woraufhin ich kurz erläuterte, dass ich aus meinen wenigen Hospitationen im Alphabetisierungskurs schließe, dass es im Alphabetisierungskurs völlig anderer didaktischer Methoden bedürfe und ich es hanebüchen fände, diese anspruchsvolle Aufgabe mal eben ohne hinreichende Schulung 'zu probieren'.

Mein Eindruck: Das BAMF lässt anscheinend fast jeden auf Alphabetisierungskurse los, ohne jegliche fachspezifische Ausbildung. Ich wage mir nicht vorzustellen, was das für die Kursteilnehmenden bedeutet. Ich selbst würde mir das niemals zutrauen.

 

(hb)